von Susanne Mayer
Nirgendwo blühen Schneeglöckchen so schön und artenreich wie im englischen Colesbourne. Ein Besuch in der Heimat der Galanthophilie
Es soll Leute geben, die Schneeglöckchen für niedlich halten, etwas aus der Gattung Oh wie süß , von der Sorte 'Kindheitserinnerung', harmlos und schlicht. Solche Leute müssen einfach mal nach Colesbourne Park. Die Gärten von Colesbourne liegen im schönsten England, zwischen Gloucester und Cheltenham, im Herzen der Cotswolds, in einer Dünung aus moosgrünen Hängen und Dörfern aus sanftgelbem Stein. Die Straße windet sich entlang einem Flusslauf, das ist der Churn. Ein Herrenhaus blitzt auf, die Straße biegt ab. Ist jetzt nur noch ein Weg. Man sieht rechts die ersten weißen Blütentuffs. Schneeglöckchen. Englisch: snowdrop. Lateinisch: Galanthus. Zwiebelgewächs, Familie der Amarylidaceae.
Das ideale Prozedere wäre: Parken auf dem Feld links. Aussteigen und auf die Allee aus Ahornbäumen zuschlendern, die über die Hügel heran gewandert kommt und in Richtung Garten führt. Man geht zwischen noch kahlen, hohen Bäumen, geht weiter, und da sind sie. Weiße Felder. Man sieht irgendwo Giebel eines Hauses, auch den Zipfel eines Kirchturms, vor allem aber sieht man Abertausende von Blüten, über einen Hang unter Bäumen ausgebreitet und darüber hinaus, Schneeglöckchen wie Schnee, einen Exzess von Blüten, eine Decke aus Blumen.
Der Wind fährt über den Hang, es rauscht in den Bäumen, und unter ihnen huschelt und wuschelt es, die Glöckchen strudeln an ihren haarfeinen Stielen, dann steht alles still. Bis zum nächsten Windstoß, der einen mit scharfem Glücksgefühl durchfährt. Und mit noch etwas Glück mehr kann man einen großen alten Mann sehen, wie er in seinen Schneeglöckchen steht, umgeben von einer Gruppe Adoranten. Das wäre dann Sir Henry.
Sir Henry steht sehr aufrecht. Brust raus unter dem Tweed, den faltigen Hals ausgefahren, den Kopf mit der weißen Mähne nach hinten gereckt, die Nase ragt wie ein Bug aus dem Gesicht. Der rechte Arm ist ausgestreckt und hat einen Prügel aus knorrigem Holz auf dem Boden aufgesetzt. Sir Henry mimt ein Schneeglöckchen. Nicht irgendeins, sondern Galanthus 'Lord Lieutenant', das liegt Sir Henry besonders am Herzen. Es erinnert ihn und uns daran, dass er bis zum Dezember letzten Jahres als Lord Lieutenant gedient hat, als Vertreter Ihrer Majestät der Königin in Gloucestershire. Was man da macht? »Quite a lot. Würde man nicht denken, oder?« Jetzt ist er ein Knight, ein Ritter im Ruhestand, und hat Zeit für das Eigentliche. Snowdrops. Und ihre Liebhaber, die von Galanthophilie heillos Ergriffenen.
Am letzten Samstag kamen 1400 Menschen. Es ist eine Epidemie. Glöckcheninfektion! Colesbourne ist an fünf Wochenenden geöffnet und neuerdings auch dazwischen für Kleingruppen, hochspezialisierte Fans aus Japan, aus den Niederlanden oder aus Deutschland. Unser Bus darf bis auf den Hof fahren, knirschend hält er im Kies zwischen einem zweistöckigen Wohnhaus von schlichter Eleganz und etwas, was wie ein Ensemble alter Stallungen aussieht. Darin ist ein Raum hergerichtet. An den Wänden hängen Familienporträts, Männer mit Perücke, die ihre Hand galant auf ihren Schärpen ablegen, Damen in hellblauen Seidenroben beäugen die Fremden. Es empfangen: Sir Henry Elwes und Lady Carolyn.
»Falls mein Mann Ihnen später erzählt, Schneeglöckchen seien sein Ding, glauben Sie kein Wort«, sagt Lady Carolyn. Ein süßes Lächeln liegt auf dem Gesicht mit eleganter Fältelung, darunter strahlend die grün-weiß gestreifte Schürze. »Er soll sich an seine Bäume halten, Schneeglöckchen sind meins.« Einen Tee? Oder Kaffee?
Eine Schneeglöckchen-Ehe, natürlich. Die Gruppe nickt, es sind Menschen, deren Galanthophilie in die Galanthomanie hineinwuchert. Sie reisen mit einer jungen Gartenarchitektin, Iris Ney aus Hennef, die sich sogar einmal in die harte Lehre des Schneeglöckchenexperten Joe Sharman von der Monksilver Nursery in Cambridgeshire begeben hat. Topfen, bis der Arzt kommt! Aus der Monksilver Nursery stammt das Schneeglöckchen, das neulich auf eBay für 375 britische Pfund wegging, Galanthus 'EA Bowles', der vorläufige Gipfel einer weltweiten Galanthus-Zockerei. Mitglieder der Gruppe stammen aus Österreich oder aus dem Norden Schleswig-Holsteins. Man fühlt sich wie ein Ungläubiger unter Mekkapilgern.
Auf dem Programm stehen großesnowdrop- Parks und private Gärten der exklusiven snowdrop -Gemeinde. Über Iris Ney erhält man Eintrittskarten zur Galanthus-Gala, dem Hochamt der Szene, wo 200 bis 300 Verzückte erst Hardcore-Vorträgen lauschen und sich dann um seltenste Exemplare balgen, die hier angeboten werden. Zum Schluss wird die Gruppe in London durch die Hallen der Frühlingsshow der Royal Horticultural Society wandeln, in Erwartung des Schneeglöckchens der Saison, das strenge Richter prämieren. Es ist die dritte »Galanthour« von Iris Ney, man kennt sich. »Nicht die hintere Bustür öffnen!«, schreit typischerweise Frau B. dem Fahrer zu, sobald ein Stopp erreicht ist, »Sie sehen doch!« Ihr Finger weist dann zitternd auf einen jungen Mann, der vor der hinteren Tür schon in seinen ungeschnürten Timberlands in Stellung gegangen ist, bereit zum Sprint auf die Schneeglöckchen-Verkaufstische.
Colesbourne ist die Heimat des Schneeglöckchenwunders von England. Colesbourne ist ein Herrensitz, der auf eine Schenkung von King Coenwulf an Abt Bullhun im Jahre 799 nach Christus zurückgeht. Das Schneeglöckchenentscheidende passierte 1874, als der Urgroßvater von Sir Henry, ein Henry John Elwes, kurz HJE, aus der Türkei ein Schneeglöckchen mit nach Hause brachte: Galanthus elwesii. Eineneue Art! Ein Bild in Colesbourne zeigt HJE, wie er auf Beinen wie Bäumen zwischen Schneeglöckchentuffs steht und eine Knarre in Anschlag bringt, womöglich auf konkurrierende Sammler?
Elwes war der klassische Gentleman, erst in Eton, dann in der Welt zu Hause. Er war Vogelexperte, züchtete Schafe, er trug eine Schmetterlingssammlung von 30000 Exemplaren zusammen und schrieb ein Standardwerk über die Lilie. Seine Sammlung der Zwiebelpflanzen galt als eine der größten weltweit. Colesbourne verdankt ihm sein renommiertes Arboretum. Es passierte das Unvermeidliche. Kaum war er tot, es war das Jahr 1922, brachte sein Sohn die Zwiebelsammlung unter den Hammer. Botanik? Gähn. Das Arboretum verfiel. Als der jetzige Elwes das Erbe antrat, in den fünfziger Jahren, riss er als Erstes den viktorianischen Riesenpalast ab und stellte sein modernes Einfamilienhaus auf eine Ecke der Fundamente, die nun auch den Rasen unterfüttern. Henry Elwes' Interesse gilt dem Park. In Sir Henry ist die botanische Leidenschaft der Familie wieder erblüht. Und natürlich hatte er Carolyn geheiratet, einen Sämling aus einer alten snowdrop- Familie.
Carolyn, sagten ihre Kusinen, wenn sie zum Tee kamen, lass uns doch die Schneeglöckchen ansehen!
Sie sei so ahnungslos gewesen, kichert Lady Carolyn. Gärtnern kommt ja erst mit 40. Auch ihr Mann hatte keine Ahnung. Aber heute weiß der alte Herr, was in seinem Garten los ist. Seit hundertfünfzig Jahren konnten sich Schneeglöckchen aller Arten in Colesbourne ungestört vermehren. Es gibt 19 verschiedene Arten von Schneeglöckchen, vom gemeinen Galanthus nivalis über das herbstblühende Galanthus reinaeolgae bis etwa zu Aprilblühern. Schneeglöckchen ziehen nach der Blüte das Laub ein, dann sind da nur noch Zwiebelchen vom Umfang fetter englischer Erbsen unter der Erde. Aber vorher haben sie, mithilfe ihrer Freunde, der Bienen, Samen getauscht, und wenn sie wieder ausschlagen, gibt es Überraschungen ohne Ende. Neue Sorten! 1500 Sorten sind heute registriert. Abmarsch der Gruppe, Elwes voraus.
Die Wiesen glitzern. Gestern kam hier sintflutartiger Regen runter, heute rasen Wolken über gleißenden Himmel. Man eilt hinter dem alten Herrn den Hängen zu, die weiß gesprenkelt zum See hinunterstürzen. Unten tiefgrünblau leuchtendes Wasser. Sir Henrys Stock fährt aus: »'James Backhouse', von 1875, markante Glocke, unersetzlich!« Oder da: Blüten wie satte Tropfen, seidig wie Perlmutt, dazu zart gehämmert, »eine der schönsten, ein hundert Jahre altes 'S. Arnott'«, Lord Henrys Prügel zeigt in Richtung der weiten drifts unter den Bäumen, an guten Tagen, sagt er, trage der Wind den Duft über den Garten. Alle Nasen fahren zu Boden.
Schneeglöckchenfreunde, heißt es, könne man an zweierlei erkennen: an Hintern, die sich in die Luft recken, ein wenig später finde sich ein lehmiger Fleck in Kniehöhe. Hinzuzufügen wäre, dass Schneeglöckchenleute gerne Plastikplanen unterm Arm tragen, die ausgeworfen werden, bevor man sich bäuchlings ins Gras legt und ein Teleobjektiv in Richtung Blüte lenkt. Was man sieht? Atemberaubende Schönheit.
Drei äußere Blätter, drei innere, gehalten von einem kleinen Knoten. Der Knoten hängt an einem Faden, der wie bei einer Angel an einem Stil befestigt ist. Die äußeren Petalen leuchten wie kostbares Porzellan, die inneren bilden Krönchen, die mit Grün gesäumt sind. Oder betupft. Oder wie ein Strudel gedreht oder eng geführt sind zu einer kleinen Tröte. Galanthus 'Lady Elphinstone' hat einen Petticoat, ist statt grün im zarten Gelb gezeichnet. Es gibt Schneeglöckchen von der Art eines verknautschten Narrengesichts. Blütenblätter, schmal und übermütig abgespreizt oder zusammengefaltet wie ängstliche Flügelchen. Es kommt wie ein Schock. Es ist herzklopfendes Erstaunen. Wird man jemals wieder ohne Schneeglöckchen leben können? Ist man jetzt Sammler?
Sammler sind ja bedenkenlose Menschen. Jäger! Von Herrn K. wird im Bus gemunkelt, er habe sich letztes Jahr auf einem Friedhof über ein seltenes Schneeglöckchen geworfen, um es mit bloßen Händen aus der Erde zu schaufeln. Einen deutschen Sammler tippt man an, schon erfährt man, dass er »höchstens 200 Sorten« im Garten hat! Englische Sammler murmeln etwa, »weiß nicht, was den Pilz neulich überlebt hat«. Der junge M. sammelt auch Seerosen, er hat gerade 8000 Quadratmeter Gartenland angekauft, für seine Eichen-Sammlung. Herr B. sammelt Schneeglöckchen und Honigtöpfe. Frau T. zeigt Fotos, darauf sieht man hüfthohe Beete aus Bohlen, in denen die Töpfchen eingegraben sind, in denen je ein Schneeglöckchen das Haupt erhebt, über ihnen lässt sich ein Metalldeckel runterklappen, das Beet ist dann ein Tresor, und man kann sich ohne Furcht vor Dieben auf die Pirsch nach mehr Schneeglöckchen begeben. In Colesbourne weist man gerne drauf hin, dass die natürliche Auswilderung einer schlichten Galanthus doch das Schönste sei. Hier steht 'Colossos', 30 Zentimeter hoch, schon von Weitem erkennbar. Und da, Sir Henry hält inne: eine Blüte wie ein Tropfen Schnee, der für einen Moment lang hängenbleibt: Galanthus 'George Elwes', benannt nach seinem jüngsten Sohn, der im Alter von 22 Jahren bei einem Autounfall starb. Der Frühlingsgarten. Ein Farbenmeer aus pinkigen Alpenveilchen, fast schwarzen Helleborus, schneeweißen Glöckchen aller Art.
Der Frühlingsgarten ist eine Kreation des Botanikers John Grimshaw, Oxford-geschult, Mitverfasser der Galanthus-Bibel Snowdrops. Natürlich kannte man sich. Grimshaw habe sich 2003 unerwartet entschlossen, ihnen unter die Arme zu greifen, erzählt Sir Henry mit allen Anzeichen grenzenloser Dankbarkeit. Waren sie doch vorher zu zweit durch den Park gezogen mit Schubkarre, er Zwiebeln ausgrabend, Carolyn sortierend, und weiter im Gelände, die Trophäen neu aussetzend, um neue schöne drifts zu erzeugen. Knochenarbeit! Mit 70!
John Grimshaw ist ein Mann in besten Jahren, sein Fellwestchen hat einen hübsch aufgestellten Kragen, man könnte ihn einen Gentleman-Head-Gardener in Teilzeit nennen. Das alte Paar trifft sich mit ihm im sonnendurchfluteten Wintergarten. Grimshaw will mit Lady Carolyn ins Dorf, wo ein Witwer um Hilfe bei der Sichtung der snowdrop- Sammlung seiner verstorbenen Gattin ersucht hat. Noch schnell ein Käsebrot zum Lunch? Auf die Frage, ob das jetzt einer dieser gerühmten Galanthus-Lunches sei - schallendes Gelächter. »Sie können sich glücklich schätzen, meine Liebe, dass dies kein Galanthus-Lunch ist!« sagt Lady Carolyn.
Der Galanthus-Lunch ist das Herzstück jedes galantophilen Geheimzirkels. Anruf der Kusinen. Lady Carolyn spricht von »hinbefohlen«. Man hat pünktlich zu erscheinen, mit Schneeglöckchen. Erst eklige Suppe, dann sagt jemand: »Nun, Carolyn, lass uns dein Schneeglöckchen sehen! Was ist es?«
Das Schneeglöckchen wandert von Hand zu Hand, von Kusine zu Tante, nur engste Familie ist da. Es geht um den Tisch, die Kommentare: gnadenlos. Aufmüpfig sein hieß seiner Nachbarin zuflüstern: »Kann ich mein niedergemachtes Schneeglöckchen gegen dein niedergemachtes Schneeglöckchen tauschen?« In solchen Kreisen werden Schneeglöckchen natürlich nur getauscht, nie vulgär erworben.
Heute ist Lady Carolyn eine Galanthus-Autorität. Explodierende Aufmerksamkeit erhielt sie, als vor Jahren der einzige Tuff eines hellgelb überhauchten Schneeglöckchen aus Colesbourne Park verschwunden war. Galanthus 'Lady Carolyn' - ausgerechnet! »Es ist doch, als würde man einen Monet klauen!«, ruft Lord Henry, vibrierend vor Zorn.
Himmel und Hölle wurden in Bewegung gesetzt, in diesem Fall die Royal Horticultural Society. Nie wieder sah man auch nur ein Zwiebelchen von Galanthus 'Lady Carolyn', wer hätte sich verraten wollen, »landete wohl im Müll!«, sagt Carolyn, nicht ohne Genugtuung. »Wir hatten natürlich eine Sicherheitskopie von sechs, sieben Zwiebeln«, lächelt Grimshaw. Ende der Audienz. Ein letzter Gang. Unten am See tost das Wehr. Die Bäume fahren mit langen Schatten wie Finger über die weißen Wiesen. Ein Trecker brummt irgendwo. Morgen geht es nach Hause. Ob man Schneeglöckchen in Heathrow durch die Security kriegt? Ob die Blüten Schaden nehmen?
von Susanne Mayer DIE ZEIT Nr. 10 vom 3. März 2011